Handlung

Das Meiste ist wirklich so geschehen.
Der Rest hätte so geschehen können.

Links: Chasa Mengelberg, 2002 (Foto: Michael Schmidt); Mitte: Mengelberg am Eingang zur Chasa, 1947 (Foto: Lindsay P. Pherigo; Quelle: Nederlands Muziek Instituut); rechts: Esszimmer der Chasa, 2002 (Foto: Michael Schmidt)

Hat der Journalist, der Willem Mengelberg im Schweizer Exil besucht, wirklich gemeint, er könne ein normales Interview führen? Es wird ein Monolog: Nach Jahren des erzwungenen Schweigens redet der kranke Maestro – drei Tage lang. Er redet sich buchstäblich zu Tode. Über sein Musikverständnis, das so anders war als das der Anderen. Über seine Freundschaft zu Mahler. Über seine Kollaboration mit den Nazis. Die Fragen nimmt Mengelberg dem Journalisten einfach vorweg. Sein Monolog wird zur Lebensbeichte. Aber nicht zu einer demütigen.

Hätte sich im März 1951, aus Anlass des bevorstehenden 80. Geburtstages des gestürzten Pultstars, wirklich ein Zeitungsmann auf den Weg in Mengelbergs Bergeinsamkeit gemacht, dann wäre wohl das dabei herausgekommen, was Der Richtigspieler erzählt. Wenn der Dirigent aus seinem Leben berichtet, muss eigentlich nichts hinzuerfunden werden. Die Fakten sind abenteuerlich genug.

Am Ende nimmt die Handlung eine überraschende Wendung, aber die wird hier natürlich nicht verraten.

Fakten

Es stimmt, dass Mengelberg die Partituren von ihm dirigierter Werke in Details verbessert hat. Er tat das, wo das Gedruckte seiner Meinung nach den Absichten des Komponisten zuwiderlief. Genau dieses Verhalten führte zum Titel des Buchs: Der Richtigspieler.

Es ist wahr, dass es Tschaikowskis gedruckte Partituren waren, mit denen Mengelberg begann – um dann mit Hilfe von Tschaikowskis noch lebendem Bruder Modest feststellen zu können, dass er richtig gelegen hatte. Tschaikowski war aber nicht der einzige Komponist, mit dem Mengelberg so verfuhr. „Das hat ihm wohl Modest Beethoven so gesagt.“ (Oder Modest Bach, Modest Brahms, je nachdem.) Der augenzwinkernd-resignierende Standardspruch der Amsterdamer Orchestermusiker ist ebenfalls nicht erfunden.

Real ist auch die Geschichte mit der Kutschfahrt und der hochgezogenen Brücke in Amsterdam. Prof. Jan Koetsier hat sie mir berichtet, Mengelbergs Assistenzdirigent. (Ihm selbst kam dabei die gleichfalls in der Geschichte erwähnte „Opferrolle“ zu.) Die Episode mit dem Arbeitersänger Ernst Busch ist ebenso belegt. Mengelberg hat in Dresden wirklich die Baronin Weber getroffen. Und ja, er hat den Nazis im Oktober 1940 tatsächlich eine letzte Aufführung von Mahlers 1. Symphonie abgetrotzt.

Viele Details in Der Richtigspieler sind also authentisch. Andererseits bekäme es jede wissenschaftliche Biografie bei Mengelberg mit einem schwerwiegenden Problem zu tun: mit den verborgenen Motivationen, die den Mann gerade zu seinen entscheidenden Handlungen bewegt haben – den musikalischen ebenso wie den außermusikalischen. Diese großen weißen Flecken kann der Roman ungestraft füllen, und auch das tut Der Richtigspieler.

Ort

Ort der Rahmenhandlung von Der Richtigspieler, also für das „Interview“, ist die Chasa Mengelberg, das Ferienhaus des Dirigenten. Es gibt sie wirklich; sie befindet sich in 1.711 Metern Höhe auf der Alm Zuort im Unterengadin in der Ostschweiz. Das Haus, ein großes hölzernes Chalet, ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Im Juli 2002 konnte ich es trotzdem besuchen. Damals gehörte die Chasa noch der Mengelberg-Stiftung und bot jungen Orchestermusikern im Sommer Raum zum gemeinsamen Musizieren. Das war meine Chance.

Noch sehr genau erinnere ich mich meiner Irritation, als ich vor der Tür stand und das Patchwork an die Außenwand geschraubter alter Emailschilder sah: Freies Ausspucken verboten! Fasse Dich kurz! Verbotener Eingang! Da hatte einer offenbar seiner Lausbubengesinnung nachgegeben und alles geklaut, was er bekommen konnte. Als ich sechzehn oder siebzehn gewesen war, hatte ich das auch getan. Aber wer hatte auf diese Weise Mengelbergs Haus verunziert? Bald erfuhr ich: Er selbst war es gewesen.

Ich hatte geradezu unverschämtes Glück. Begrüßt wurde ich von Adriaan van Woudenberg, einem älteren Herrn, der wie viele Niederländer sehr gut Deutsch sprach. Es stellte sich heraus, dass er früher Hornist im Concertgebouw-Orchester gewesen war. Engagiert hatte ihn – Willem Mengelberg persönlich, 1943. Da war er achtzehn gewesen.

Die Chasa Mengelberg wirkte, als sei ihr ursprünglicher Bewohner gerade eben nur kurz nach draußen gegangen. Es war alles unverändert: das bäuerliche Mobiliar, die Schallplatten, das Klavier, die Bilder, sämtliches Interieur. Ich besah mir Mengelbergs Bücherregal und war verblüfft ob dessen Inhalts: der gesammelte Karl May, Schenzingers Anilin, Knittels Via Mala. Fast alles auf Deutsch. Auch ein Stapel Illustrierter aus den frühen 1940er Jahren lag da noch. Dass Mengelberg alles andere als ein intellektueller Mensch gewesen und dass Deutsch die „Amtssprache“ auf der Chasa gewesen sei – van Woudenberg sagte es mir.

Ich sah Mengelbergs Tonbandgerät, das in Der Richtigspieler eine Rolle spielt. Bekanntlich war es nur mit Batterien zu betreiben. Das Haus hatte auch im Jahr 2002 noch keinen Elektroanschluss.

Am Geländerknauf des Treppenaufgangs im Vestibül hing Mengelbergs Horn, mit dem er während der Sommerfeste die über die Alm verstreuten Schäfchen zum gemeinsamen Mahl rief. Van Woudenberg führte es mir vor.

Überhaupt, die Sommerfeste. Der alte Hornist erklärte mir, wie sie abgelaufen waren: die Onkel- und Tante-Namen, die grotesken Spiele. Wir tranken Wein aus Mengelbergs Gläsern. Und dann ging ich auf die Toilette und sah das an die Wand geschraubte Lesebrettchen, das ganz offensichtlich aus einem Eisenbahnwagen gestohlen worden war. Ich klappte es herunter und las den aufgeklebten Zettel mit Mengelbergs Handschrift: Das Lesen philosophischer Werke ist hier verboten!

Zum Schluss gingen wir hinüber zu Mengelbergs Kapelle, wo Adriaan van Woudenberg mir das vom Dirigenten gebaute Glockenspiel zeigte. Da war ein Schubkasten, in dem Noten lagen. Oben auf dem kleinen Stapel: Mengelbergs selbstkomponiertes Abschiedsständchen. Der alte Hornist hämmerte es für mich mit geballten Fäusten in die Tastatur, dass das ganze Tal dröhnte.

All das taucht auch in Der Richtigspieler auf.

Sprache

Mengelbergs Sprache in Der Richtigspieler ist burschikos, zuweilen fast vulgär. Spricht so ein großer Künstler? Und dann ist da dieser nicht zu stoppende Redefluss – Der Richtigspieler kommt quasi als Monolog daher. Wie real ist beides?

Wenn Mengelberg eines nicht war, dann eine feinsinnige Künstlernatur. Dem Äußeren nach hätte er einem Bild des Adriaen Brouwer entstiegen sein können: eine jener Bauernfiguren, die der niederländische Meister im 17. Jahrhundert gemalt hatte: kleine gedrungene Gestalt, grobes Gesicht mit Stupsnase und Glupschaugen, flammend rotes, vom Schädel abstehendes Kraushaar.

Sein Verhalten passte zu seiner Erscheinung: Mengelberg war polternd und starrsinnig, selbstherrlich und diktatorisch. Journalisten pflegte er zuweilen auf den Arm zu nehmen. Mit todernster Miene erzählte er ihnen offenkundigen Unsinn. Das berichtete mir Mengelbergs Assistenzdirigent, Prof. Jan Koetsier, der Augen- und Ohrenzeuge solcher Situationen gewesen war. Wenn er sprach, erinnerte er zuweilen an einen schnarrenden preußischen Offizier – aber einem, dem irgendwie der Schalk im Nacken saß. Deutsch sprach Mengelberg akzentfrei. Wer es hören will: Auf YouTube ist ein Rundfunkinterview von 1936 mit ihm zugänglich.
Mengelberg war ein guter Gesellschafter; er liebte derben Humor und die einfachen Genüsse. Von Literatur, Philosophie und bildender Kunst hatte er nur wenig Ahnung. Sein Feinsinn konzentrierte sich wirklich ausschließlich aufs Musikalische. Dort allerdings überragte er alle.

Und ja: Mengelberg war ein bekennender Vielredner. Die stundenlangen Vorträge, die er seinen Musiker in den Proben hielt, statt sie spielen zu lassen, sind legendär.