Willem Mengelberg

Mengelbergs Dirigierpartitur der 4. Symphonie von Gustav Mahler mit handschriftlichen Einträgen Mengelbergs und Mahlers (Quelle: Nederlands Muziek Instituut)

Der vergessene Weltstar.

Ein halbes Jahrhundert lang, von 1895 bis 1945, war Willem Mengelberg Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters. Abgesehen von der Königin, galt er als populärster aller Niederländer – und er war weltbekannt. Man nannte ihn in einem Atemzug mit Furtwängler und Toscanini. Nur, dass bei Mengelberg alles noch aufregender klang als bei diesen. Doch er konnte sich dabei auf die Unterstützung derer berufen, auf die es ankam: Gustav Mahler und Richard Strauss beispielsweise meinten, Mengelberg könne ihre Werke besser aufführen als sie selber.

Als 1940 die Nazis die Niederlande besetzten, ging Mengelberg nicht ins Exil. Er arrangierte sich mit den Besatzern. Mit fatalen Folgen, als es vorbei war: Berufsverbot, Aberkennung der Pension – und nun doch auch Exil. Mengelberg starb einsam, arm und verbittert in seinem Haus in den Schweizer Bergen. Das halbe Jahrhundert, das er musikalisch in Amsterdam geherrscht hatte – es wurde anschließend quasi aus den Annalen getilgt.

Leben

Willem Mengelberg: 1871 (Utrecht; Niederlande) – 1951 (Zuort, Schweiz)

1871 Joseph Wilhelm Mengelberg als Sohn eines deutschen Holzbildhauers geboren
1888 Studiert Musik in Köln (bis 1891)
1892 Wird Leiter des Städtischen Konservatoriums Luzern
1895 Wird Chefdirigent des Concertgebouw-Orchesters Amsterdam (CGO)
1900 Heiratet Mathilde „Tilly“ Wubbe, Sopranistin im Amsterdam Tonkunstkoor
1902 Lernt Gustav Mahler kennen
1903 Erste Aufführungen von Mahler-Symphonien mit Mahler in Amsterdam
1907 Reist im Juli nach Dresden und lernt Marion von Weber kennen
1909 Letzte Aufführung einer Mahler-Symphonie mit Mahler in Amsterdam
1910 Sommerurlaub auf der Alm Zuort – beschließt, hier ein Haus zu bauen
1911 Mahler stirbt; Baubeginn der Chasa Mengelberg auf der Alm Zuort
1920 Mahler-Fest in Amsterdam
1921 Wird zusätzlich Musikdirektor des New York Philharmonic Orchestra (NYPO)
1924 Dirigiert in Amsterdam von ihm vollendete Teile der 10. Symphonie von Mahler
1926 Als zweiter Musikdirektor des NYPO kommt Arturo Toscanini nach New York
1929 Toscanini intrigiert gegen Mengelberg. Dieser verlässt daraufhin New York
1934 Mengelberg und Tilly nehmen ihren Hauptwohnsitz in der Schweiz
1938 Eduard van Beinum wird neben Mengelberg Zweiter Chefdirigent des CGO
1940 Agiert zu Beginn der deutschen Besetzung öffentlichkeitswirksam unglücklich. Letztes Dirigat einer Mahler-Symphonie in Amsterdam
1941 Setzt sich bei Reichskommissar Seyß-Inquart erfolgreich für jüdische Orchestermitglieder ein
1942 Bewahrt durch persönliche Fürsprache bei Seyß-Inquart etwa 40 jüdische Künstler und Intellektuelle vor der Deportation. Sonderkonzerte für Nazi-Nomenklatura in Amsterdam
1943 Tilly stirbt in Luzern
1944 Im Mai letztes Konzert mit dem CGO in Amsterdam. Im Juni letztes Konzert überhaupt in Paris. Rückzug auf die Chasa
1945 Nach der Befreiung der Niederlande wird Mengelberg in Abwesenheit wegen Kollaboration verurteilt: lebenslanges Einreiseverbot in die Niederlande, Aberkennung der Pension und aller Ehrungen
1947 Namhafte Künstler der Niederlande, u.a. van Beinum, reichen eine Petition gegen das Urteil ein. Milderung des Einreiseverbots – es gilt nur noch bis Juli 1951. Mengelberg wird krank
1951 Mengelberg stirbt in der Chasa, wird an Tillys Seite in Luzern begraben

Musiker

„Man muss übertreiben, sonst verstehen es die Leute nicht.“ Diese Äußerung Mengelbergs gegenüber seinen Orchestermusikern – sein Biograph Frits Zwart weiß von ihr – könnte als sein musikalisches Credo gelten. In der Tat hat der Dirigent die Partituren der Komponisten stets in dem Sinne interpretiert, den er in ihnen erkannt zu haben meinte. Mengelbergs Dirigierpartituren, die heute im Nederlands Muziek Instituut in Den Haag aufbewahrt werden, strotzen vor handschriftlichen Einträgen. Das Ergebnis seiner subjektiven Auffassung war stets atemberaubend gut. Zu Mengelbergs Zeiten lebende Komponisten wie Mahler, Rachmaninow, Ravel, Strauss oder Strawinski waren voll damit einverstanden, was der Dirigent aus ihren Werken machte. Bartók, Hindemith oder auch Kodály überließen ihm Uraufführungen.

Drei der wichtigsten Stilmittel, die Mengelberg regelmäßig als musikalische Unterstreichungen einsetzte, waren der alten romantischen Dirigiertradition entlehnt: Portamenti bei den Geigen, Forte-subito-Einsätze und ein extremes Rubato. Um die Wirkung zu verstehen, muss man nur seine Live-Aufnahme von Beethovens Neunter aus dem Jahr 1938 hören. So aufregend hat man diese Musik noch nie erlebt.

Legendär war Mengelbergs Probenstil. Statt seine Musiker spielen zu lassen, hielt er ihnen zunächst stundenlange Vorträge zur Bedeutung des Werks. Das machte ihn beim Orchester nicht eben beliebt, aber – so sagte Augen- und Ohrenzeuge Jan Koetsier: Wenn die Musiker endlich spielten, war das Ergebnis frappierend, vollkommen unerklärlich.

Auch dass Mengelberg vom Orchesterklang mehr verstand als Andere, wirkte sich aus. Er konnte die Wirkung jedes einzelnen Instruments auf das Ganze erspüren, und zwar in jedem konkreten Raum. Außer ihm konnte das wohl nur noch Leopold Stokowski. „Bemängelberg“, so sein Spitzname, hörte buchstäblich alles, und er ließ einfach nichts durchgehen.

Allerdings geriet Mengelberg schon um 1930 in die Schusslinie Derjenigen, die sich für eine moderne „objektive“ Musikinterpretation einsetzten – allen voran Arturo Toscanini. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie geradezu zum Dogma. Es hat die klassische Musik bis heute im Griff.

Mengelberg war ein ungemein fleißiger Schallplattenproduzent. Viele seiner Aufnahmen mit dem Concertgebouw-Orchester finden sich heute auf YouTube. Auch ein etwa zwanzigminütiges Filmdokument ist zu finden. Der 1931 in den Pathé-Studios von Epinay-sur-Seine aufgenommene „Konzertmitschnitt“ zeigt, wie Mengelberg seine hochemotionalen Aufführungen dirigierte: erstaunlich unemotional und hauptsächlich mit den Augen.

Verstrickung

Kommt Mengelbergs Kollaboration mit den Nazis zur Sprache, dann heißt es heute, er sei einfach politisch naiv gewesen. Es verhielt sich wohl komplexer.

Zunächst war Mengelberg ein lebendes Fossil aus jener grenzenlosen Welt von gestern, die Stefan Zweig so eindrucksvoll beschrieben hat. Sie war vor allem ein Paradies für Künstler und Intellektuelle gewesen – fruchtbarer Austausch im gesamten europäischen Kulturraum. Mengelberg weigerte sich den Untergang dieser Welt zu akzeptieren. Als er die Möglichkeit sah, sie als Scheinwelt weiter zu bewohnen – Hitlers blutige Version des geeinten Europas –, tat er es.

Gewohnt, dass die Welt sich nach ihm zu richten hatte, versuchte er gar, die Nazis für sich zurechtzubiegen. Wenn, dann war das ausdrücklicher Wille zur Naivität. Spätestens als er erleben musste, wie sie die Musik Gustav Mahlers verbannten, für die Mengelberg geradezu lebte, war er wohl in der Realität angekommen.

Dafür, dass er dennoch weitermachte, ist wohl ein weiterer, noch gewichtigerer Umstand verantwortlich: seine einmalig enge künstlerische Bindung an ein Orchester, das CGO. Mit ihm und nur mit ihm brachte er Leistungen zustande, die wirklich unvergleichlich waren. Dieses Orchester zu verlieren, hätte für Mengelberg bedeutet, sich selbst zu verlieren. Sein Ende scheint das zu belegen.

Letztlich aber ist der Fall Mengelberg zumindest teilweise auch ein Medienfall. Wer heute zu ihm recherchiert, dem wird das klar. Mengelberg hat unter deutscher Besatzung nicht schlimmer kollaboriert als andere auch, vgl. Furtwängler und Strauss. Warum wurde er schlimmer bestraft? Entscheidend war, dass er sich in den ersten Tagen der Besetzung extrem unprofessionell gegenüber der Presse verhalten hat. Er war einfach noch nicht in der neuen bösen Zeit angekommen. Die in jenen Tagen entstandenen Bilder und Schlagzeilen waren 1945 die wichtigsten Anklagepunkte – und nicht etwa das, was folgte: sein Ausharren, seine Konzerte vor Nazigrößen und seine persönlichen Kontakte mit diesen. Ein Shitstorm-Problem siebzig Jahre vor dem Social-Media-Zeitalter – jetzt erst fällt es auf.